Auf den Kopf gestellt

Damals dachte ich, mein Leben drehte sich von nun an um hundert Grad.

Aber heute weiß ich, wenn, dann ändere ich mein Leben um die Gradzahl, die ich benötige. Um glücklich zu sein.

Mein Mann und ich erlebten einen schlimmen und zugleich aufregenden Sommer 2005 ...

Meine gute Freundin starb mit 35 an Brustkrebs und ließ zwei Kinder und ihren Mann zurück. Sie war immer eine lebenslustige Frau, und eine Zeitlang fiel es mir schwer zu glauben, dass eine positive Lebenseinstellung tatsächlich zu einem positiven Ergebnis führte.

Da es bei ihr nun erwiesenermaßen nicht so kam. Sie glaubt immer an das Gute und war trotzdem tot. Heute weiß ich, dass sich trotzdem immer lohnt, an das Gute zu glauben. Heidi starb. Gleichzeitig bot mir die Firma, für die ich damals tätig war, an, als Expatriate mit meinem jetzigen Mann nach Rumänien zu gehen und dort zu arbeiten. Für mich, die im tiefsten Innern ihres Herzens Osteuropäerin ist, obwohl mein Vater aus dem Ruhrpott und meine Mutter aus Westfalen kommen, ein Sechser im Lotto. Während meines persönlichen Dramas. Mein damaliger Arbeitgeber war immer die Konstante in meinem Leben. Fünfzehn Jahre war ich für ihn tätig. In meiner Trauer kam es mir gerade recht zu flüchten, dachte ich.

Mein damaliger Freund (jetziger Mann) und ich entschieden uns, Rumänien anzugehen. Innerhalb von vier Wochen beerdigte ich meine Freundin, packte meine Sachen und war gefühlt in einer anderen Welt. Ich kannte Rumänien bereits gut. Dort konnte ich mich gut ablenken. Die neue berufliche Tätigkeit gefiel mir gut. Privat nahm ich Sprachunterricht. Für mich als Übersetzerin und Sprachlieberhaberin eine weiteres tolles Plus. Ein Jahr lang lebten wir dort. Gute Zeiten. Schlechte Zeiten. Fernweh. Heimweh. Als mich ein Kollege aus Indien, der bei uns auf Geschäftsreise war, drüben in Bukarest fragte: „Warum stellst du den Kollegen so viele Fragen über Rumänien? Du bist doch Rumänin!“, wusste ich, ich war angekommen. Auch im zweiten Winter buchten wir den Weihnachtsheimaturlaub. Eltern und Freunde treffen. Feiern. Ich vermisste das deutsche Weihnachten nach wie vor. Diesen Winter jedoch trafen wir uns mit unseren Freunden nur kurz zu Hause in Köln. Danach fuhren wir nach Paris.

Zwei Wochen vor dem Abflug, also Mitte Dezember 2006, spürte ich eine unsägliche Müdigkeit in mir. Ich war nicht imstande zu arbeiten, weil mir ununterbrochen die Augen zufielen. So etwas Verrücktes hatte ich noch nie erlebt. Ich hatte außerdem Durchfall und vermutete, ich hätte mir eine Virus eingefangen. ‚Wird schon wieder‘, dachte ich mir und haute weiter rein: Weihnachtsgeschäft, Sprachunterricht, Trainings, Geschäftsreisen innerhalb Rumäniens. Es war stressig und erfüllend zugleich. Ich glaubte noch an den positiven Stress. Heute weiß ich: Stress ist Stress. Und gefährlich.
Ich musste mich krank melden, weil ich im Stehen einschlief. Das war gefährlich, denn ich kippte dann natürlich um. Und war übersät von blauen Flecken. Ich blieb zu Hause in unserer Wohnung in Bukarest. Es war mir unangenehm, weil ich ran wollte. Arbeiten wollte. Lernen wollte. Nach Paris wollte. Ich hielt die Füße ruhig. Was hatte ich auch für eine Wahl. Ließ mich zu einem rumänischen Arzt fahren. Er ging auch von einem starken Magendarminfekt aus. In der Wohnung wechselte ich von der Toilette auf die Couch, aß nichts, schlief ab und an auf der Toilette ein, bis ich fiel. Ich fühlte mich schrecklich.

Nach zwei Wochen fing ich mich wieder und dachte, alles sei vorbei. Ich ging zurück ins Büro. Buchte Paris. Trotzdem es mir wieder besser ging, war ich unsagbar deprimiert und konnte mir es nicht erklären. Ich hatte eine Ahnung. Eine Ahnung, dass ich nicht zurückkehren konnte.

Wir flogen nach Köln und fuhren von dort aus mit unseren Freunden nach Paris. In Paris angekommen waren alle gut gelaunt und genossen den Kurztrip. Alle. Außer mir. Ich spürte, wie es zurückkam. Diese Erschöpfung, die keiner vorher je erlebten Erschöpfung gleich kam. „Ja, wir sind auch müde. Das kommt von der Reise. Und du hattest ja auch viel Stress in der letzten Zeit!“ Ja. Hatte ich wohl. Ich bemühte mich, die Treppen zum Montmartre hinaufzukraxeln. Keine Chance. Nach den ersten Stufen setze ich mich hin – ich kannte das mit dem Fallen schon – und schlief ein. Sekundenschlaf. Vermutlich hatten es meine Freunde nichtmals richtig bemerkt. Ich fragte nicht. Es kam kleinen Ohnmachten gleich. Ich war oder fühlte mich wie eine Spielverderberin. Dort oben wartete das tolle Restaurant, in dem wir noch einen Platz für alle bekommen hatten, und ich kam nicht dort hoch! Ich war 35, schlank, sportlich, fit, liebte das Reisen! Wieso kam ich nicht dort hoch? Da machte sich eine Verzweiflung in mir breit. Und ich wusste, hier hatte ich es nicht mit einem Infekt zu tun. Hier war etwas im Argen. Ich brauchte ewig und viele Pausen, um oben anzukommen. Ich hatte an diesem Abend keinen Spaß. Und dabei bin ich sicherlich alles andere als eine Spaßbremse. Die Paris-Nummer war für mich der blanke Horror.

Auf dem Rückweg von Paris nach Köln im Auto spürte ich, dass sich meine linke Gesichtshälfte seltsam anfühlte. Als wir wieder in Köln waren, konnte ich sie nicht mehr bewegen. Die Erschöpfung hatte sich unterdessen wieder etwas gelegt. Bevor wir nach Paris fuhren, war ich am Morgen noch flugs bei meinem Zahnarzt. Der hatte eine Füllung repariert und mir vorab eine Betäubungsspritze gegeben. Als nun meine linke Gesichtshälfte lahm war, und ich unterdessen auch von innen meine Zunge und meinen Gaumen nicht mehr spüren konnte, fuhr ich nach unserer Wiederankunft in Köln wutentbrannt zu meinem Zahnarzt. Ich hielt ihm vor – schon aus Verzweiflung, weil ich das Gefühl hatte, längst nicht mehr Herr über meine Körper zu sein –, dass er bei seiner Betäubung wohl einen meiner Nerven getroffen hätte. So etwas hörte man doch am laufenden Band. Der arme Kerl!

Ich war ein Jahr nach meiner Diagnose bei ihm. Habe mich erklärt. Denn als ich vor ihm stand – erschöpft und mit lahmen Knochen – prasselten meine Vorwürfe auf ihn ein. Mit seltsamer Stimme. Denn mein Gesicht konnte ich kaum bewegen. Es reagierte nicht. Dafür aber schmerzte es. Mein Zahnarzt bat mich inständig, dringend einen Termin bei einem Neurologen zu machen. Neurologen? Ich wusste nichtmals genau, was ein Neurologe war. Ich ging wütend zu einem praktischen Arzt in meiner Nähe. Dieser Herr ließ mich dann Fahrrad fahren und andere Belastungstests absolvieren, die ich im Normalzustand mit Leichtigkeit gemanagt hätte, um mir dann frech zu sagen, ich hätte die Kondition „einer Oma“, ich sollte mich „nicht so anstellen“ und „beim Sport mehr reinklotzen“. Ich war nicht mehr wütend. Ich war maßlos enttäuscht. Niemand verstand mich. Ich ging noch zu einigen anderen Ärzten. Immer der gleiche Schmu.

Bis ich mich entschloss, doch einen Neurologen aufzusuchen. Nun ging alles relativ schnell. Ich wusste nicht, wie mir geschah, aber innerhalb weniger Tage wurde mein Gehirn bis in den kleinsten Schlupfwinkel abgelichtet. Ich wurde bemessen. Rückenmarksflüssigkeit wurde entnommen. Ins Krankenhaus eingewiesen.
Ich wurde ernst genommen.

Dann die Besprechung. Mein Mann und ich standen in dem Büro des Neurologen. Der Neurologe sagte: „Die gute Nachricht ist, Sie haben keinen Schlaganfall. Die schlechte Nachricht ist, Sie haben Multiple Sklerose!“ Mein Kopf! Auf den ich immer so stolz war! Was war hier los? Schlaganfall? Multiple Sklerose? Wovon sprachen hier alle? Ich war – wie meist in Situationen, in denen ich Angst habe – irgendwie aus mir herausgekrochen. Stand nun gefühlt neben mir und schaute auf meine Körperhülle. Die ganz gesund aussah. Von der man aber nun sagte, dass sie krank wäre.
Unheilbar. Was für ein Wort.

Der Neurologe redete weiter: „Ich möchte Ihnen keine Angst machen. Entgegen dessen, was ‚draußen‘ erzählt wird, muss es nicht schlimm ausgehen.“

Heute weiß ich: Ich bin ein solcher Glückspilz! Ich treffe immer auf die richtigen Menschen! Er schickte mich zunächst nach Hause, damit wir uns alle etwas beruhigen konnten, gab mir Infomaterial mit. Und verbot mir, ins Internet zu gehen, um weitere Nachforschungen zu betreiben. „Sie erfahren alles von mir. Im Internet ist man so gut wie tot. Und das ist ausgemachter Blödsinn!“ Und obwohl ich sonst sehr selten in meinem Leben auf Verbote höre, befolgte ich seinen Rat damals.

Drei Fragen stellte ich ihm, als ich so neben mir stand:
„Stirbt man davon?
Wird man davon verrückt?
Kann man damit Kinder bekommen?“
Seine Antworten: „Nein. Nein. Unbedingt!“

Mein Mann weinte. Ich vergoss keine Träne. Meine Hülle käme wieder in Ordnung, dafür sorgte ich. Das war und ist mein Credo. Ich war allerdings nicht so sehr zurechenbar, denn alles, was ich wollte, als wir zu Hause waren, war plötzlich Sex. Kinder hatten nie einen rechten Platz in meinem Lebensplan. Aber jetzt wollte ich auf Biegen und Brechen nichts lieber als ein Kind! Ich wollte beweisen, dass mein Körper es schafft! Ich wollte keine Angst haben. Ich wollte ein Kind. Einige mögen unken, das wäre eine egoistische Einstellung gewesen. Ich fand, ich hatte zu dem Zeitpunkt das absolute Recht auf Egoismus. Unheilbar krank. Was meine tote Freundin dazu wohl gesagt hätte?

Am nächsten Tag saßen wir wieder beim Neurologen. Ich war erstaunlich ruhig. Noch heute schüttle ich den Kopf, wenn ich daran denke, wie ich reagiert hatte. Der Neurologe bat mich, unbedingt einige Dinge zu überdenken, weil man nun nicht wüsste, wie sich die MS entwickeln würde.
Ich sollte, wenn finanziell möglich, unbedingt für eine vertrauensvolle Haushaltshilfe sorgen.
Ich sollte, wenn im Umkreis möglich, für eine Art „Ersatzfamilie“ sorgen.
Ich sollte, wenn für mich in Ordnung, wegen der medizinischen Versorgung sofort aus Rumänien zurückkehren bzw. nicht mehr dort arbeiten…

Peng. Das saß. Mein Traum. Meine Arbeit. Mein Glück. Mein Ein und Alles.
Aber ich hielt mich auch daran. Ich stornierte den Rückflug. Rief meine rumänische Freundin an und erklärte ihr alles. Ich traute mich nicht, es allen anderen rumänischen Kollegen zu sagen. Ich fühlte mich wie ein Schwächling. In Bukarest hatte ich eine Kollegin, unsere Haus- und Hof-Juristin. Sie hinkte und war von schwächlicher Natur. Da dämmerte es mir. „Die Krankheit“ von der alle sprachen, wenn es um diese Kollegin ging, war Multiple Sklerose. Sie hatte MS. In dem Moment vergaß ich, wie stark sie mir immer vorgekommen war, als ich es noch nicht wusste. Dass sie den Laden managte. Ihren Job. Dass ich ihr Hinken nie groß registriert hatte. Dass das Wort „schwächlich“ in ihrem Zusammenhang so gar nicht passte. Meine rumänische Freundin bestätigte, dass besagte Kollegin unter MS litt, und ich bekniete meine Freundin, den anderen nicht zu sagen, dass ich „diese Krankheit“ nun auch hatte. Ich wollte in der Erinnerung die starke Deutsche bleiben. Und verließ Rumänien.

Bis heute trauere ich um meinen Traum. Ich habe nach wie vor guten Kontakt zu allen und in all den Jahren habe ich es auch erzählt, dass mich „die Krankheit“ auch erwischt hat. Aber auch, dass es mir gut geht. Und es mir leid tut, mich niemals richtig verabschiedet zu haben. Ich glaube, keiner hat es mir je übel genommen.

Wieder in Deutschland hatte ich mich gerade etwas gefangen, als der eigentliche Spießrutenlauf begann. Ich war alleine, denn mein Mann konnte nicht auch plötzlich seinen Vertrag auflösen. Er kam meistens an den Wochenenden nach Deutschland. Rückblickend lässt sich sagen, dass wir beide unsere Karriere für die MS aufgegeben haben. Oder – alles ist eine Frage der Perspektive – wir haben uns beide entschieden, das zu dem Zeitpunkt Richtige zu tun. Heute lebe ich nach dem Motto „It’s only a job“. Keine Tätigkeit ist mir mehr so wichtig, dass ich dabei vor die Hunde gehen möchte. Ich halte den Ball flach. Weil es mir scheinbar gut getan hatte. Aber in mir brennt es noch. Ich will noch immer ran.

Ich wurde einige Wochen nach der MS Diagnose schwanger. Nach einigen Wochen jedoch zeigte sich, dass mein Körper sich innerhalb von sechs Wochen zu viel vorgenommen hatte. Es kam zu einer Ausschabung. Meine Gynäkologin hielt mir im Operationsraum die Hand, bis ich einschlief, und sagte: „Sorgen Sie sich nicht. Sie sind bald wieder schwanger. Versprochen!“ Gewagte Aussage. Sie hielt, was sie versprach. Ich wurde einige Wochen nach der Ausschabung wieder schwanger.

Das Gute in Bezug auf den Kinderwunsch war, dass ich beim Neurologen – trotz der verzweifelten Versuche seinerseits – jegliche Medikamente abgelehnt hatte: Das Kortison während des Schubs. Die Immunsuppressiva für die Basistherapie. Damals hielten mich alle für verrückt. Aber mein Innerstes sagte mir, dass das das Richtige wäre. Und ich behielt recht. Das ist keine Empfehlung. Es war für mich das Richtige. Entscheiden muss es jeder für sich.

Meine zweite Schwangerschaft startete im Juni. Ich hatte mich noch nie so fit gefühlt wie während der Schwangerschaft. Allerdings war ich etwas irritiert, weil ich auch im fünften Monat noch keine Schwangerschaftskleidung tragen musste. Meine Gynäkologin aber vermutete, dass ich aufgrund der ganzen Ereignisse der letzten Monate verspannt wäre. Sie empfahl mir eine Fruchtwasseruntersuchung. Unterdessen war ich fast 37. Ich hätte unbewusst Angst vor möglichen Krankheiten. Nach all dem Tohuwabohu der letzten Zeit. Und das stimmte. Natürlich kann man keine MS bei Ungeborenen feststellen. Aber darum ging es nicht.

Ich bekam die guten Ergebnisse am nächsten Tag und flog noch am selben Nachmittag nach Frankreich in den Urlaub. Ich erinnere mich wie heute: Freitagnachmittag im fünften Monat in meiner normalen Kleidung nach der gelungenen Fruchtwasseruntersuchung ab nach Frankreich; am Samstagmorgen des nächsten Tages wachte ich auf und konnte meine Füße nicht mehr sehen. Ich hatte einen gigantischen Bauch! Wir fuhren sofort in die Stadt, um mir Schwangerschaftskleidung zu kaufen. Nichts passte mehr. Über Nacht.

So schön meine Schwangerschaftszeit verlief, um so schlimmer wurde es im Job. Als ich nun früher, als es mein Auslandsvertrag es eigentlich erlaubte, nach der Diagnose aus Rumänien zurückgekehrt war, hatte meine Firma zwar einen „netten Job“ in der Personalabteilung in Teilzeit – ich war ja nun ein Schwächling in den Augen eines Arbeitgebers, so fühlte es sich zumindest für mich an – angeboten, aber dort sah mich meine Vorgesetzte als Konkurrenz. Sie hatte all dem zugestimmt, weil für sie und scheinbar alle anderen klar war, dass ich früher oder später wegen Krankheit ausfiele. Als ich dann auch noch schwanger wurde, freute sie sich um so mehr, dass sie mich bald wieder quitt würde. Aufgrund meiner Fehlgeburt und der Tatsache, dass ich nach diesem ersten offiziellen Schub fit wie ein Turnschuh war, fühlte sie sich mehr und mehr von mir bedrängt, obwohl ich beileibe andere Sorgen hatte. Als ich dann meine Tochter bekam, ging ich in Elternzeit. Zunächst ein Jahr. Dann wollte ich zurück. Aber man „bat“ mich zu verlängern. So ging es drei Jahre, dann bot mein Arbeitgeber mir einen Aufhebungsvertrag an.

Nach fünfzehn Jahren Anstellung sagte mir meine Lebenskonstante damit, dass sie sich von mir trennen möchte. Weil ich plötzlich krank war und dann auch noch Mutter. Wie konnte ich nur! Ich sagte zu. Und irgendetwas in mir war sogar glücklich, Sprüche wie „Ich dachte, Menschen wie dich träfe so etwas niemals“, oder „Dann habe ich lieber Krebs, der ist meist heilbar“, gerne auch „Mit dieser Muskelschwäche wirst du im Alter noch arge Probleme bekommen“, was für irre Worte, im Büro nicht mehr hören zu müssen.
Ich war auch froh, nicht mehr nach Düsseldorf fahren zu müssen und mir in Ruhe in Köln eine schöne Stelle suchen zu können. Papperlapapp! Die erste Stelle, die ich nach einem weiteren Jahr fand, war bei einem kleinen Privatunternehmen. Ich kannte den Inhaber seit Langem. Ich erwähnte die MS aufgrund meiner Erfahrung mit meinem letzten, langjährigen Arbeitgeber nicht. Als wir nach einem Jahr im neuen Job in einem Gespräch auf Lebensveränderndes zu sprechen kamen, erzählte ich es. Drei Tage später wurde mir gekündigt. Krank war ich während meiner Zeit dort keinen einzigen Tag. Aber ich war zu stolz, um hier aktiv zu werden. Ich suchte mir einen neuen Job und fand ihn. Die MS erwähnte ich mit keinem Wort. Leider ging die Firma pleite. Auch ohne MS. In meinem jetzigen Job habe ich die MS auch nicht angegeben.

Das Wichtigste aber: Ich bin unterdessen seit Paris schubfrei! Damit musste ich juristisch die MS nicht angeben. Käme es heraus, kündigte man mir sicher trotzdem.
Sei’s drum. Ich habe alles geschafft. Das bekäme ich auch hin! Im Nachhinein bin ich für folgendes besonders dankbar:
Dem Zahnarzt, der mich gedrängt hat, zum Neurologen zu gehen.
Dem Neurologen, der mich ernst nahm und mir gute Tipps gab.
Meinem Bauch, der mir sagte, ich sollte keine Medikamente nehmen.
Der DMSG, die mich immer wieder super berät.
Meinem Willen, der mir riet, ein Kind zu bekommen. Mein ganzes Glück.
Meinem Umfeld, das immer zu mir hielt.
Meinem Körper, der mein Freund ist und mir beisteht.
Schübe hatte ich bereits vor dem ersten offiziellen Schub. Sehnervenentzündungen. Darmschäden. Andere Erkrankungen. Mehrere Monate in Krankenhäusern, ohne dass wir herausfanden, was tatsächlich los war. Mehrere Operationen, die vielleicht nicht nötig gewesen wären. Ich habe einige Gänge runtergeschaltet. Irgendwann schalte ich wieder hoch. Einige Träume begraben. Aber neue entwickelt. Mein Bauchgefühl wird nie wieder ignoriert. Medikamente nehme ich übrigens immer noch nicht. Bin da irgendwie schwierig.

Mein Zugehen auf Menschen mit Behinderung hat sich völlig geändert. Natürlich auch aus egoistischen Gründen. Ich möchte, sollte es mir gesundheitlich schlechter gehen, trotz Beeinträchtigung gewertschätzt und für voll genommen werden. Und ich glaube an ausgleichende Gerechtigkeit.
Meine Ängste sind immer noch da. Mal mehr. Mal weniger. Aber sie nehmen mich nicht mehr ein. Ich weiß Bescheid. Bin informiert.

Ich lebe. Liebe. Feiere. Reise. Treibe Sport. Fahre täglich mit dem Rad zum Büro. Mein Gesicht ist wieder völlig in Ordnung. Meine Müdigkeit übermannt mich noch manches Mal. Aber das kann ich unterdessen einordnen. Und an das Duschen mit geöffneten Augen, damit der Schwindel mich nicht umwirft, kann man sich nun wirklich gewöhnen. Ich werde einfach ein Shampoo erfinden, das nicht in den Augen brennt!

Der Kinderarzt meiner Tochter sagte einmal zu mir: „Jeder Mensch hat einen ‚Fehler‘ im System.“ Meine Freundinnen mochten diesen Satz nicht.
Ich liebe diesen Satz. Er ist wahr. Und er ist okay. Und am Ende wird alles gut. Daran glaube ich! Und das solltet Ihr auch!


anonym