Anne Wallraf im Kontakt zu "Ihrem" Pferd:
Ein Erfahrungsbericht aus der Hippotherapie
An eine ausgepägte Zuneigung für Pferde etwa in der Kindheit kann sich Anna Jacob-Wallraf nicht erinnern, eher habe sie vor den großen Tieren immer Respekt gehabt, ja Angst. Und jetzt soll sie gar auf den Rücken eines Pferdes namens „Grizzly“ steigen?
In der Reithalle des Pferdesport- und Reittherapiezentrums der Gold-Kraemer Stiftung, kurz PRZ, lässt sich die 52-jährige Frau aus Frechen von der Hippotherapeutin Sarah Porath und der heilpädagogischen Reittherapeutin Mareile Günther aus einer besonders erhöhten Loge für behinderte Menschen auf den Rücken des Pferdes heben. Gut eine halbe Stunde schreiten Pferd und mithin die Reiterin durch die Halle, geführt von den Therapeutinnen. Allmählich lockert sich ihre Körperhaltung zum gleichförmigen Schritt von „Grizzly“, begleitet von kleinen Übungen wie etwa Kreisen der Schultern und Arme.
Im Gespräch über Alltagsthemen mit den Therapeuten lacht Anna Jacob-Wallraf sogar. „Durch den Rumpf bis in die Schultern hinein“ seien jetzt die Bewegungsimpulse des schreitenden Pferdes bei der Klientin zu sehen, bemerkt Inga Nelle, Leiterin des PRZ, die von der verglasten Tribüne aus zuschaut, gemeinsam mit Mitgliedern des Multiple Sklerose Kontaktkreises Kerpen-Horrem und dem Wissenschaftler der Kölner Sporthochschule, Christian Büning. „Ganz schön wackelig “ fühle sie sich jetzt nach dem Ritt, der sei ganz schön anstrengend gewesen, sagt Anna Jacob-Wallraf. Ihre Beine fühlten sich taub an, ein mittlerweile gewohntes Gefühl. „Ich habe Angst zu fallen“, sagt sie.
Nach dem ersten Auftauchen der für Multiple Sklerose typischen Symptome habe sie, die früher sogar Marathon gelaufen sei, das Gehen und selbst das Autofahren eingestellt, dann aber die Krankheit als Herausforderung begriffen und wieder gehen geübt. Von der Hippotherapie verspreche sie sich weitere Impulse, wieder sicherer zu stehen und gehen.
Dass Hippotherapie der Gesundheit förderlich sei, dafür fehle der wissenschafliche Beweis, argumentierten die Krankenkassen, die die Kostenübernahme für die Hippotherapie ablehnten, sagt Renate Ehlen, die MS an den Rollstuhl fesselt. Und das obwohl die Hippotherapie längst einen Platz in verschiedenen Reha-Maßnahmen für MS-Kranke eingenommen habe. Einige der Mitglieder des MS-Kreises seien über die Erfahrungen mit den Pferden „glücklich“ gewesen und hätten sich als Gruppe für eine Hippotherapie im PRZ entschieden.
Am wissenschaftlichen Nachweis der Nützlichkeit der Hippotherapie wollen jetzt zwölf Mitglieder der Kerpener MS-Selbsthilfegruppe mitarbeiten. Renate Ehlen ließ frühere Kontakte zur Sporthochschule Köln spielen und stieß dort die Erforschung des Nutzens der Hippotherapie mit Hilfe von Spezialisten für Bewegungsanalysen an. Einen Teil der Therapie-Kosten übernehme jetzt eine Stiftung, vielleicht ließen sich die Krankenkassen überzeugen, den Rest zu übernehmen, es handele sich immerhin um ein Forschungsprojekt, sagt Ehlen. „Zwölf Probanden, die an ein und demselben Ort die gleiche Therapie machen, das ist für unsere Forschungsarbeit ein Traum“, sagt Christian Büning. Büning koordiniert und begleitet das Pilotprojekt zusammen mit der amerikanischen Forscherin Amy Hubbard im Kölner Institut für Bewegungstherapie, bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport gGmbH.
Bereits Ende April, zum Beginn der Hippotherapie im PRZ, seien die Probanden zu einer ersten Video-Aufzeichnung ihres Bewegungsrepertoires in das Institut gekommen. Die einzelnen Probanden hätten zehn Minuten lang ihr Bewegungsrepertoire in den Disziplinen gehen, laufen, stampfen und drehen gezeigt, und in Bewegungsimprovisationen Ausdrucksformen für die vier alchemistischen Elemente Wasser, Feuer, Erde, Luft finden sollen, erläutert Büning die Untersuchungsmethode, ein anerkanntes, standardisiertes Verfahren namens „B.A.S.T“, kurz für „Bewegungsanalyse, Skalen und Test“. Mögliche Veränderungen der Bewegungsmuster der zwölf MS-Patienten sollen zwei Folgeuntersuchungen nach gleichem Muster in drei und sechs Monaten zeigen. Eine Untersuchung nach weiteren drei Monaten ohne Hippotherapie solle Einsicht in Veränderungen über die Zeitdauer der Therapie hinaus geben.
Die Probanden sind optimistisch was den Ausgang der Untersuchung angeht. Immerhin habe auch Amy Hubbard, die selbst an MS erkrankt sei, nach einer Hippotherapie in den USA wieder gehen können, schildert Gruppenleiterin Monika Boosen. Dabei scheine die Beziehung zum lebendigen Tier eine besondere Rolle zu spielen, sagt Büning, in den USA habe es Studien mit Maschinen gegeben, die den Hüftschwung eines Pferdes imitierten, ohne vergleichbare Heilungserfolge.
Die Kontaktaufnahme zum Pferd scheine bei Patienten eine positive Heilwirkung auszuüben über den rein physiologischen Trainingsaspekt hinaus. Den probierte Büning in einem kurzen Ritt selbst aus: „Insbesondere die Beckenmuskulatur wird beansprucht.“
Die Schrittweise eines Pferdes entspreche in vieler Hinsicht der des Menschen, die Bewegung des Pferderückens trainiere die Muskulatur des Beckens und des gesamten Rumpfes, die für das Gehen notwendig sei, erklärt Sarah Porath die Wirkung der Hippotherapie. Selbstredend entwickele sich bei der Therapie auch eine Freundschaft zwischen Mensch und Tier. Pferde seien eben sehr sensible Herdentiere, die sehr genau die Reaktionen und Stimmungslagen ihrer Artgenossen wahrnehmen würden. In der Therapie mit den an Multiple Sklerose erkrankten Menschen sei es schon passiert, dass ein Pferd selbst die Erschöpfung eines ihrer Reiter erkannt habe und stehen geblieben sei. „Als die Patientin dann wieder im Rollstuhl saß, hat es noch einmal zurückgeschaut, als ob es sich vergewissern wollte, dass es der Patientin auch wirklich gut geht“, erzählt Porath. Für alle Fälle hatte Anna Jacob-Wallraf an diesem Morgen zwei Äpfel eingesteckt, die sie unter der Aufsicht von Inga Nelle an ihren neuen Freund Grizzly verfüttern durfte.
Von Oliver Tripp
erschienen in der Rhein-Erft Rundschau/Kölner Stadtanzeiger am 26.05.2015
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