Mit MS im Klettersteig!

Ich bin jetzt 59 Jahre alt und in einer Zeit groß geworden, die man heute die End 68-er nennt. In dieser Zeit hat für uns, damals Jugendliche, das Wort Freiheit eine immens große Bedeutung gehabt.

Es war die Zeit von Woodstock, Hair und Flower Power. Wir hatten lange Haare und sind im Sommer barfuß durch die Stadt gelaufen.

Hannes Wader und Konstantin Wecker wurden mit ihren provokanten Liedern bekannt. In dieser Zeit kam Greenpeace erstmals mit Ihren Aktionen an die Öffentlichkeit. Wir sind auf die Straße gegangen, wenn wir anderer Meinung waren.

Freiheit hieß für uns damals Unabhängigkeit von Jedem und Allem. Daraus entwickelte sich die Grundeinstellung, alles erreichen zu können, wenn wir nur wollten.

Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom

– Malcolm Muggeridge englischer Journalist –

Dieser Geist hat mich ein Leben lang begleitet und wirkt auch heute noch nach. Dies hat mir bei der Bewältigung meiner progredienten MS in den vielen Jahren sicherlich sehr geholfen. Auch heute noch akzeptiere ich ungern Grenzen und bin der Meinung, dass Barrieren extra für uns gemacht sind, um sie zu bewältigen und Erfolgserlebnisse zu sammeln. Die Grenzen und Maßstäbe sind sicherlich mit dem Fortschreiten meiner MS andere geworden und verändern sich ständig. Aber das Spiel mit den Grenzen ist ein Ausdruck von Lebendigkeit und Selbstbestimmtheit. Um seine Grenzen kennen zu lernen, muss man sie immer wieder ausloten, nach Möglichkeit, ohne sie zu überschreiten (Eigenverantwortung). Nur so sammeln wir Erfolgserlebnisse, das tägliche Brot für ein gesundes Selbstbewusstsein. Wenn wir MS-ler einen Hügel besteigen, kann das Gipfelerlebnis dem einer Everest-Besteigung gleichkommen. Bei uns sind die Maßstäbe halt etwas anders.

Im Jahr 2008 schenkten mir meine Kinder, ich weiß nicht mehr, ob zu Weihnachten oder zum Geburtstag, das gemeinsame Erklettern des Bopparder Klettersteigs. Dieser Klettersteig ist für Otto Normalverbraucher nicht besonders anspruchsvoll. Er ist aber landschaftlich sehr schön mit einem wunderbaren Blick auf den Rhein. 

Auch wenn er für geübte Kletterer keine echte Herausforderung darstellt, war das bei mir anders. So war ich mir absolut nicht sicher, ob ich dieses Abenteuer in meinem Zustand bewältigen könnte. Umso mehr reizte mich das Unternehmen, um zu sehen, was bei mir noch möglich ist. Zu dieser Zeit konnte ich noch eingeschränkt gehen, allerdings kam ich durch meine linke Fußheberschwäche häufig ins Stolpern. Außerdem war meine Kondition aufgrund von Muskelschwäche ziemlich am Boden.

So fuhren wir zu sechst mit unserer bergerfahrenen Hündin Kati an einem schönen Sontag nach Boppard. Auf einem Parkplatz nahe am Klettersteig „pflasterte“ ich unter anderem meinen linken Fuß, um etwaige Druck- und Scheuerstellen durch meine Peronäusschiene vorzubeugen. Wir zogen unsere Bergstiefel an und packten unsere Tagesrucksäcke mit Ausrüstung, Proviant und Getränken.

Dann ging's los. Die Sonne schien und wir erreichten schon nach wenigen Metern den Einstieg zum Klettersteig. Hier verpackten wir Kati in einen Rucksack und legten unsere Klettergurte sowie das Klettersteigset an. Letzteres besteht aus zwei HMS-Karabinern, die über eine Seilbremse mit dem Klettergurt verbunden sind. Klettersteige werden in der Regel von einem fest montierten Drahtseil begleitet, an dem man die beiden Karabiner wechselweise einhängt, so dass ein Karabiner immer am Drahtseil ist und den Kletterer sichert.

Der Einstieg bestand aus einer ca. fünf Meter langen Leiter, die senkrecht an einer Felswand hinunter führte. Das Abenteuer begann und wir mussten uns, indem wir den ersten Schwindel überwanden, an die Ausgesetztheit der Tour gewöhnen. Eins meiner im Bergsteigen ausgebildeten Kinder ging immer vor oder hinter mir, um notfalls einzugreifen oder Hilfestellung zu geben.

Da das Stürzen in ein Klettersteigset sehr schmerzhaft sein kann, empfiehlt es sich, dies zu verhindern, indem man immer drei Punkte, z.B zwei Füße und eine Hand, sicher am Fels hat. Insbesondere die Leitern und Stahlanker machten mir damals kaum Probleme, denn hatte mein linker Problem-Fuß erst einmal einen sicheren Stand gefunden, konnte ich meine Position mit dem linken Bein hervorragend stabilisieren.

So kletterten wir Leitern und Felsen rauf und runter, querten ein paar Wände und genossen den herrlichen Ausblick auf die Weinberge und Schiffe auf dem Rhein tief unter uns.
Mein Hauptproblem bestand in den ebenen Verbindungspfaden ohne Kletterei, wo mein lädierter Fußheber immer wieder ein Hängenbleiben meines linken Fußes verursachte.

An der letzten Felswand bekam ich dann einen Krampf in meinem noch gesunden rechten Bein, wahrscheinlich, weil dieses Bein doppelt so viel Arbeit verrichten musste und sich etwas überanstrengt hatte. Nach einer längeren Pause, in der sich der Krampf löste, ging ich ganz vorsichtig weiter und erreichte ohne weitere Probleme unser Auto.

Dieses Erfolgserlebnis und dazu noch in unbeschreiblich schöner Natur hat mir wieder einmal gezeigt, dass auch mit Handicap sehr viel Lebensqualität möglich ist. Damit wir durch Misserfolge nicht das Gegenteil erreichen, ist ein hohes Maß an Eigenverantwortung, richtige Selbsteinschätzung und Risikominimierung notwendig. So etwas lässt sich aber trainieren. Und wenn man mal seine Grenzen überschritten hat, nicht resignieren, sondern seine Maßstäbe herunter setzen oder einfach einen besseren Tag abwarten.

Gipfelbesteigung live: https://www.youtube.com/watch?v=0wJx_Tq99u0&feature=youtu.be