Multiple Sklerose – MS – Meine Schwester

MS, das ist die medizinische Abkürzung für Multiple Sklerose.

Ärzte sagen nüchtern, dass sie eine chronische Entzündung meines Gehirns und meines Rückenmarks ist, die in Schüben verläuft und langfristig betrachtet zu Behinderungen führen kann. Soweit die Ärzte.

Ich sehe das alles etwas persönlicher. Ich nenne sie meine Schwester.
Sie ist nicht boshaft. Aber sie braucht Aufmerksamkeit. Verdammt viel Aufmerksamkeit. So viel Aufmerksamkeit, dass man sich selbst aus den Augen verlieren könnte.

Als sie auf ihre unberechenbare Art in mein Leben platzte, war ich gerade mal 21 Jahre alt. Ich hatte viele Pläne und Träume wie vermutlich die meisten 21-jährigen. Ganz konkret plante ich zwei Wochen Italienurlaub, den ich mir mit Studentenjobs erspart hatte und auf den ich mich seit Wochen wie Bolle freute.
Eine Woche vor Abflug tauchte sie auf, die neue Schwester, und ließ mich auf dem rechten Auge nur noch 10 % sehen. Statt nach Italien konnte ich ins Krankenhaus reisen. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Das war ein denkbar ungünstiger Start, mit dem sich diese Schwester auch nicht gerade beliebt machte.

Ich ignorierte sie und plante trotzig weitere Urlaube, die sie mir einen nach dem anderen mit weiteren Krankenhausaufenthalten wieder strich. Es entbrannte ein zorniger Wettstreit, und ich stellte fest, dass meine neue Schwester nicht nur ähnlich stur war wie ich, sondern dass sie auch den längeren Atem hatte. Sicher, die Versuchung war groß, die weiße Fahne zu schwenken und einfach aufzugeben, mich auf das Schlimmste einzustellen und mein Schicksal zu beklagen. Aber die Träume in mir wollten gelebt werden. Ich wollte mein Leben selbst gestalten.

Daher begann ich, nicht mehr zu kämpfen, sondern zu verhandeln. Diese Schwester war zwar lästig, aber auch ein Teil von mir. Also bezog ich sie in meine Pläne ein. Und tatsächlich ließ sie sich mit Achtsamkeit und Geduld zähmen. Ich konnte die MS mit ihren Einschränkungen nicht aufhalten. Dank meiner Hartnäckigkeit gelang es mir jedoch, nach Italien, Spanien, Brasilien und sogar nach China zu reisen. Auch mein Berufsziel konnte ich, wenn auch über Umwege, erreichen.

Ja, dieses ständige Schwimmen gegen einen Sog ist anstrengend.
Ja, trotzdem zurückgetrieben zu werden, ist frustrierend. Aber ich kann MEIN Leben leben. Nur langsamer. Und achtsamer.

So ketzerisch das klingt: es hat auch Vorteile. Durch dieses Leben in Zeitlupe habe ich jetzt keinen Platz mehr für die kleinen Ärgernisse des Alltags. Ich lebe bewusster und intensiver. Ich kann mich über Kleinigkeiten freuen, die für andere Menschen selbstverständlich sind.

Ich werde diese Schwester niemals lieben. Aber vielleicht werde ich ihr irgendwann dankbar dafür sein, dass sie mich zur Entschleunigung zwingt und meinen Blick für das Wesentliche schärft.
Irgendwann.
Vielleicht.

Aletta Nic.