Grenz-Erfahrungen:
Rolli-Trekking im Nationalpark
Sächsisch-Böhmische Schweiz

Ich saß auf meinem Bett in der Jugendherberge von Bad Schandau und blätterte in einem Tourismus-Flyer mit Höhepunkten des Elbsandsteingebirges, um Rollstuhl-kompatible Unternehmungen für unseren weiteren Familien-Sommerurlaub zu finden. Als eines der Top-Highlights der näheren Umgebung wurde dort die Edmundsklamm (Edmundova soutěska) an der deutsch-tschechischen Grenze beworben: ein etwa zwei Kilometer langer Pfad, so war da zu lesen, führe den Urlauber entlang eines kleinen Baches und malerischer riesiger Felsformationen durch wildromantische Wälder zu einem Bootsanleger, von wo aus man mit einem Kahn noch tiefer in die Böhmische Schweiz fahren könne.

Es stand da aber auch geschrieben: „Leider ist die Klamm nur bedingt für Rollstuhlfahrer geeignet.“

Ich ließ mir trotzdem den Weg von der Jugendherberge zur Klamm mit meiner Handy-App berechnen und war erfreut zu sehen, dass es nur circa 15 Kilometer waren; eine Distanz, die mir dank der Akku-Unterstützung des Adaptivbikes am Rollstuhl keine allzu großen Probleme bereiten dürfte. Sollte ich also mit meinem Rollstuhl-Handbike nicht in die Klamm kommen, hätte ich zumindest eine schöne Rolli-Tour an der Elbe gemacht. Außerdem reizte mich die Vorstellung, mal mit einem Rollstuhl über die Grenze, wenn schon nicht zu gehen, dann wenigstens zu fahren und die Gesichter der Grenzer zu sehen, wenn zwischen den Autos auf einmal auch ein Rollstuhl-Handbike steht.

Mein Entschluss stand also fest: DAS wollte ich machen, während meine Frau und unsere Tochter für den nächsten Tag unseres Urlaubs eine definitiv nicht Rollstuhl-geeignete Tour im Elbsandsteingebirge unternehmen wollten.
Am nächsten Tag nach dem Frühstück im Speisesaal zogen meine beiden Lieben los und ich holte mein Rollstuhl-Handbike aus dem Fahrradschuppen. Dort hatte ich es in Absprache mit dem Herbergsvater für die Dauer unseres Urlaubs zwischen Fahrrädern der anderen Jugendherbergsgäste und einem großen Würstchengrill parken dürfen.

Bevor ich meinen Rucksack mit Proviant und einer Jacke zwischen die Schiebegriffe des Rollstuhl-Handbikes hängte, versetzte ich die beiden großen Laufräder dank der Radstandverlängerung nach hinten, um so die Traktion des Vorderrades zu erhöhen. Tags zuvor hatte ich nämlich bei Anfahrten am Berg lernen müssen, was Traktion bedeutet: nämlich die Fähigkeit eines Rades, seine Dreh-Richtung in Vorschub umzuwandeln, sprich: kriegt man nicht genug Druck auf das Vorderrad, dreht das Rad durch bzw. man rutscht am Berg bei mangelnder Traktion bei durchdrehenden Reifen langsam nach hinten. Der Mensch lernt halt am besten aus seinen Fehlern!

Um nicht erst bei Bedarf die Räder an einer ungeeigneten Stelle umsetzen zu müssen, erledigte ich das lieber in Ruhe und an einem ebenen Ort, da durch das Versetzen der Räder die Bremsen an den großen Rädern des Rollstuhls nicht mehr greifen, sondern nur noch die Handbremsen des Adaptivbikes funktionieren. Dann fuhr ich los!

Die Straße führte durch dichten Wald, wo noch die Spuren der Verwüstung zu sehen waren, die der letzte Sturm vor zwei Wochen in der Region hinterlassen hatte. Es war schon unglaublich, was die Aufräumarbeiten bereits geschafft hatten. Dennoch lagen am Waldrand noch viele dicke, umgestürzte Bäume, die auf ihren Abtransport warteten. Auch gab es noch einige durch den Starkregen verursachte Straßenschäden, die noch beseitigt werden mussten. Daher fuhr ich entsprechend vorsichtig die teilweise recht steile Straße hinab und war erleichtert, als ich ohne Probleme endlich am Elberadweg angelangt war.

Beschwingt von der problemlosen Abfahrt genoss ich jetzt die Fahrt auf dem gut ausgebauten und breiten Elberadweg und kam zügig nach Schmilka, dem letzten Ort vor der Grenze. Ab Schmilka, das hatte ich bei der Tourenplanung auf dem Handy gesehen, muss man das letzte Stück bis zur Grenze direkt an der Straße zurücklegen.

Kurz bevor der Radweg hoch zur Straße führte, lud eine Bank noch zum Verweilen mit Blick auf die Elbe ein. Ich hielt an und „parkte“ den Rolli am elbnahen Rande des Radweges. Die Feststellbremsen funktionierten zwar aus den zuvor beschriebenen Gründen nicht und die Klammer, mit der man die Handbremse am Lenker des Adaptivbikes feststellen kann, fand ich nicht, hielt es aber auch nicht für nötig, den Rolli auf vermeintlich ebener Strecke zu sichern. Außerdem wollte ich mich ja nur über den Radweg zu der Bank begeben und hätte den Rollstuhl im Blick. 

Ich stieg aus dem Rollstuhl aus – und dann passierte es: Der Lenker hatte sich Richtung Elbe gedreht und nun rumpelte der Rollstuhl ungebremst über die Wiese den Abhang herab zum Fluss.
Diese Variante des autonomen Fahrens wurde erst durch dichten Uferbewuchs gestoppt. Wäre die Abfahrt einige Meter weiter rechts verlaufen – der Alptraum wäre Realität geworden. Denn hier endete der Bewuchs und der Weg in die Elbe wäre frei gewesen!

Ich stolperte, schwankte und rutschte zu meinem Rolli hinab und saß dort erst einmal hinter ihm in der Schneise, die er bei seiner Abwärtsfahrt als Bremsspur in das Gestrüpp gezogen hatte. Während ich so hinter dem Rolli saß und überlegte, wie ich ihn da herausbekäme, standen plötzlich eine Frau und drei Männer bei mir. Die Dame erklärte, sie hätten mich vom oberhalb des Elberadweges gelegenen Parkplatz aus in der Böschung mit Rollstuhl sitzen gesehen, und wären gekommen, um mir zu helfen. Scherzhaft meinte sie: „ Zum Glück haben Sie dieses rote Hemd an. Sonst hätte man Sie im Gestrüpp ja gar nicht gesehen!“

Und dann ging auf einmal alles ganz schnell! Die Männer berieten sich kurz, hoben dann zu dritt das Rollstuhl-Handbike-Gespann im Ganzen an und trugen ihn aus dem Gestrüpp zurück zum Elberadweg. Mit Hilfe der Dame konnte ich ihnen folgen. Unter den Augen meiner Retter versetzte ich erst einmal die Laufräder wieder nach vorne, so dass die Feststellbremsen wieder funktionierten. Dann eine kurze Kontrolle, dass die Elektronik am Handbike keinen Schaden genommen hatte. Ich lud meine Retter als Dank in eine Gaststätte ein, doch sie wollten ihre Wanderung fortsetzen, so dass sich unsere Wege auch schon wieder trennten. Da mein Rolli und Handbike funktionsfähig waren, beschloss ich, meine Tour in Richtung Tschechien fortzusetzen.

Kurz hinter dem Ortsausgangsschild von Schmilka kam das Schild mit dem Hinweis „Vorsicht Grenze“ und schließlich der Grenzübergang. Allerdings waren dort nicht die langen Autoschlangen und Grenzbeamte aus meiner Vorstellung. Tschechien ist nämlich seit Mai 2004 Mitglied der EU und seit Ende 2007 auch Mitglied des Schengen-Abkommens. Grenzformalitäten entfallen somit.

Daher konnte ich problemlos – ohne einen einzigen Grenzbeamten zu sehen – weiterfahren und schon bald hieß mich ein Schild „Willkommen in Tschechien“, und kurz darauf kam zuerst das obligatorische grenznahe blaue Verkehrsschild, mit den im Land geltenden Geschwindigkeits-beschränkungen und schließlich die erste grenznahe Tankstelle.

Ich steuerte sie an, um dort den Luftdruck meiner Bereifung zu prüfen. Meine Luftpumpe hatte ich zu Hause vergessen. An der Tankstelle suchte und fand ich schließlich einen Kompressor – einen sicherlich 1 x 2 Meter großen Schrank, der mich an einen großen Überseekoffer aus früheren Zeiten denken ließ.

Dort stellte ich meinen Rolli ab (und zog diesmal auch die Bremsen an) und setzte mich dann neben den Rolli auf den Boden, um mit einer Hand die Ventilspitze des Kompressors auf den Reifen zu pressen, mit der anderen Hand auf das Plus-Zeichen am Kompressor zu drücken und auch noch den Luftdruck über die große Anzeige zu überwachen.
Ein dunkler Wagen hielt in meiner Nähe, dem ein junger Mann entstieg und kam auf mich zu. Ich fragte: „Wollen Sie hier hin? Ich bin gleich fertig!“ „Nein, nein“, versicherte er mir. Er wolle nur fragen, ob er mir irgendwie helfen könne und fügte noch bedauernd hinzu: „Ich kann nicht so gut Deutsch.“

Ich antwortete: „Besser als ich Tschechisch, weil – ich kann leider gar kein Tschechisch“. Wir mussten gemeinsam herzhaft lachen, und zusammen hatten wir schnell die Reifen aufgepumpt, indem er den Kompressor bediente und ich den Schlauch auf das Ventil drückte. Wir unterhielten uns noch kurz, dann sagte ich zum Abschied das einzige Wort auf Tschechisch, das mir am Abend zuvor ein polnischer Jugendherbergsgast beigebracht hatte: „Děkuju – Danke“. Dann setzte ich mich wieder in meinen Rolli und fuhr los. Aus dem Auto des hilfsbereiten Mannes winkten mir zwei Paar Kinderhände hinterher.

Schließlich kam ich nach Hřensko (Herrnskretschen), einem Tor zum Nationalpark Böhmische Schweiz. Ein Blick auf mein Handy zeigte mir, dass ich zur Edmundsklamm hier abbiegen musste. Zu meiner Rechten floss der Fluss Kamnitz, davor warben Verkaufsstände mit Kleidung mit Aufdrucken von namhaften Firmen in teils grell bunten Farben oder luden Gastronomien zum Verweilen ein. Ich nutzte keines dieser Angebote, sondern gelangte über eine Brücke schließlich zum Eingang der Klamm. Der Tourismus-Flyer aus der Jugendherberge hatte völlig Recht: Ein wunderschöner, wildromantischer Pfad führte entlang des Bachs durch einen ursprünglichen Wald und links und rechts taten sich die Sandsteinformationen auf. Eine natürliche Kulisse für einen Märchenfilm, in dem hinter dem ein oder anderen Baum ein Zwerg oder eine Elfe hervorschauen.

Und mit noch etwas hatte der Flyer Recht: der Weg ist nur bedingt für Rollstühle geeignet. Zwar ist am Wegesrand zum Fluss hin ein sehr stabiles Holzgeländer. Da es aber immer mal wieder kurze Anstiege oder Abfahrten gibt und die Wegequalität nicht immer die nötige Traktion garantiert, ist eine Begleitperson oder eine Motorisierung des Rollstuhls, die beim Hochfahren unterstützen kann, zumindest sehr hilfreich. In meinem Fall hatte ich glücklicherweise beides!

So erreichte ich schließlich den Bootsanleger. Da jedoch schon viele Leute an dem Steg auf eine Fahrt warteten und ich nicht einschätzen konnte, wie lange ich für den Rückweg zur Jugendherberge brauchen würde, entschied ich mich dagegen.

Stattdessen parkte ich mein Rollstuhl-Handbike (unter Benutzung der Feststellbremsen) bei einer Gruppe von Fahrrädern und setzte ich mich auf eine Bank nahe des Stegs. Dort genoss ich beim Verzehr meines mitgebrachten Picknicks den Fluss und die Natur um mich herum und schaute den Kähnen beim An- und Ablegen zu.

Dann trat ich den Rückweg an. Anders als auf dem Hinweg hatte der Strom an Touristen jetzt deutlich abgenommen. Das Zurückrutschen des Rollstuhls an Anstiegen war geblieben. Hier half mir ab dem ersten Anstieg eine junge Frau aus Südamerika mit den Worten: „I am your … backup!“

So kam ich problemlos durch die Klamm und schließlich wieder nach Schmilka, wo ich in der „Alten Mühle“ meine Frau und meine Tochter wieder traf, die auch von ihrer Tour zurückkamen. Bei Limo und Apfelschorle tauschten wir unsere Erlebnisse aus und fuhren dann gemeinsam mit dem Bus zurück zur Jugendherberge.
Noch heute denke ich immer wieder gerne an diesen erlebnisreichen Tag.


Es ist jedes Mal toll, erleben zu dürfen: Hilfsbereitschaft kennt keine Grenzen!

Jens Rückert