Träume leben –
Rolli-Trekking auf historischen Pfaden

"Was haben Sie denn vor!?“
Das fragte mich eine Nachbarin, als ich ihr in kurzer Hose, einem gut gefüllten 75-Liter Rucksack und meinem Rollstuhl begegnete. Ich zögerte kurz mit meiner Antwort, dann sagte ich etwas ausweichend: „Ich möchte etwas ausprobieren. Mehr möchte ich jetzt noch nicht sagen, werde Ihnen aber davon erzählen, wenn es geklappt hat.“

Mein Ziel: Eine 20 km lange Strecke des Römerkanal-Wanderwegs von Köln-Sülz zum Heider Bergsee in Brühl, und zwar mit Rücksicht auf meine verminderte Gehfähigkeit, im Rollstuhl zu bewältigen. Dieser ist mit e-motion, einem restkraftverstärkenden Antrieb, also einer Art e-Bike für den Rollstuhl, ausgestattet. Dazu kommt meine Ausrüstung für die Übernachtung im Zelt; also quasi Rolli-Trekking!

Aber warum mache ich das?
Ich bin seit frühester Jugend gerne in der Natur unterwegs. Machte in meinem früheren Leben vor der Diagnose MS kleine und größere Radtouren, ging klettern und hin und wieder im Wald joggen. Im weiteren Krankheitsverlauf zeigte (und zeigt) mir die Multiple Sklerose jedoch immer mehr meine Grenzen auf. Unbegrenzt geblieben ist aber meine Begeisterung für Aktivitäten und Leben im Freien und das damit verbundene Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Und das will ich mir selbst von der MS nicht nehmen lassen!

Mein Entschluss stand also fest! Nach einiger Internet-Recherche fand ich diese Strecke, die für meine Bedürfnisse aus folgenden Gründen recht gut geeignet schien:
Erstens ist die Strecke in beide Richtungen gut markiert und die Daten für Navigationsgeräte bzw. Smartphone können frei im Internet heruntergeladen werden.
Zweitens verläuft sie mehr oder minder in der Nähe der Straßenbahnlinie Köln-Brühl, so dass ich bei etwaigen Problemen mit der Bahn nach Hause fahren könnte.
Und drittens habe ich mit dem Campingplatz am Heider Bergsee ein schönes Ziel, wo ich mein Zelt aufschlagen und die Nacht verbringen kann.

Ich holte also meine Ausrüstung – Zelt, Kocher, Schlafsack usw. – vom Speicher und verstaute sie neben dem Proviant und zwei Ersatzakkus für den Rolli in meinem Rucksack. Dazu kam noch ein Wassersack mit drei Litern Wasser. Das Ganze hing ich hinten an den Rollstuhl zwischen die beiden Schiebegriffe. Als weitere Vorbereitung importierte ich auf meinem Smartphone die Daten für die 7. Etappe des Römerkanal-Wanderwegs in der App Locus Map.

Und dann ging es los!
Die erste Strecke des Weges entlang der Berrenrather Straße Richtung Hürth ist gelinde gesagt eher mäßig attraktiv. Zum Glück führt mich der Weg schon bald weg von der Hauptstraße, zunächst durch ein Wohngebiet, an der Hürther Burg vorbei und schließlich hinauf Richtung Hürthpark. Die mehr oder minder stetige Steigung kann ich dank des e-motion auch mit den 20 kg Zusatzgewicht des Rucksacks problemlos meistern. Einzig bei stärkeren Anstiegen beuge ich mich mit dem Oberkörper weit vor, um ein Umkippen des Rollis zu vermeiden.
Da es recht warm ist, bin ich dankbar für mein Trinksystem am Rucksack. Über den Schlauch am Wassersack kann ich regelmäßig etwas trinken, ohne aussteigen oder etwas auspacken zu müssen. Sehr praktisch!

Nach circa fünf Kilometer stelle ich bestürzt fest: Ich habe unterwegs irgendwo mein Smartphone verloren. Fluchend drehe ich um, und starte den verzweifelten Versuch, mein Gerät wiederzufinden. Ich fahre die Strecke aufmerksam wieder zurück, aber mein Smartphone finde ich nicht!

Da kommt mir ein junges Pärchen mit Kinderwagen entgegen. Ich spreche die beiden an und bitte um Hilfe. Der junge Vater zückt sein Smartphone und ich diktiere ihm meine Nummer. Leider ist kein Klingeln in unmittelbarer Nähe zu hören. Der junge Vater aber bliebt dran und meint: „Vielleicht hebt ja ein ehrlicher Finder ab!“

Währenddessen gehe ich im Kopf meine Optionen durch: Die Tour würde ich wohl nicht zu Ende machen. Bliebe nur, die nächste Haltestelle der Straßenbahn zu finden und zurück nach Hause zu fahren.
Da meldet sich plötzlich jemand an meinem Telefon! Ich konnte und kann noch immer mein Glück kaum fassen. Der ehrliche Finder berichtet, dass er das Smartphone an einer Bushaltestelle gefunden habe und man ihn dort treffen könne. „Wir begleiten Sie!“, sagen die jungen Eltern und gemeinsam gehen wir die Straße wieder zurück. An der Bushaltestelle empfängt uns der ehrliche Finder mit Baby auf dem Arm und drückt mir mein Handy in die Hand. Ich kann mich gerade noch bei allen herzlichst bedanken, dann trennen sich unsere Wege wieder.

Ich bin froh, dass ich meine Tour doch noch wie geplant fortsetzen kann. Ab jetzt bin ich allerdings peinlichst darauf bedacht, mein Smartphone nach jedem Gebrauch wieder in die Hosentasche zu packen und diese sicher zu verschließen.

Ich orientiere mich bei der Tour nicht nur an meiner App, sondern auch am Logo des Römerkanal-Wanderweges, dem stilisierten Querschnitt durch einen Wasserkanal, das regelmäßig entlang des Weges zu finden ist. Am Ortsanfang von Hürth-Keldenich zeigt die Markierung an einer Straßenlaterne nach links. Ich bin etwas verwirrt und versuche mich mit Hilfe meines wiedergefunden Handys zu orientieren. Da tritt hinter mir ein freundlicher Herr aus seiner Ausfahrt und fragt, ob er mir helfen könne. Ich erkläre, dass ich auf dem Römerkanalweg Richtung Brühl unterwegs sei und der Wegweiser mich jetzt auffordere, nach links abzubiegen. Wir stimmen überein, dass der Weg wohl sicher nicht durch sein Wohnzimmer führe. Aber der Herr zeigt mir, dass wenige Meter neben seinem Haus ein Feldweg verläuft, auf dem ich meine Route fortsetzen kann. Dieser lässt sich in den Fahrspuren der Traktoren gut befahren, da es ja seit längerer Zeit nicht geregnet hat. Die Strecke geht mal bergab und mehr bergauf und es wird immer wärmer, da die Wolken sich verzogen haben. Zum Glück erreiche ich bald wieder das kühlende Blätterdach des Waldes.

Kurz bevor ich zur Luxemburger Straße gelange, zeigt ein in immer kürzer werdenden Abständen wiederkehrender Ton an, dass der linke Akku bald leer sein wird. Im Wald in der Nähe des Bleibtreusees tausche ich die Akkus und so erreiche ich ohne weitere Zwischenfälle mein Ziel, den Heider Bergsee.

Nach meiner Anmeldung am Campingplatz fahre ich zunächst zum See. Dort setze ich mich mit einem kühlen Getränk aus dem Kiosk ans Ufer und genieße den Ausblick auf den See und das frische Wasser an meinen Füßen. Ein kleines Kind spielt mit seinem Vater im Wasser. Ich lasse mir Zeit mit dem Austrinken.

Schließlich baue ich mein Zelt auf und koche auf meinem Gaskocher die mitgebrachten Tortellini mit Tomatensoße. Dicht bei mir picken im rötlich schimmernden Schein der untergehenden Sonne Wildgänse im Gras und leisten mir Gesellschaft. Zufrieden lege ich mich bald nach dem Essen in mein Zelt. Hier entdecke ich noch eine Sprach-Nachricht von meiner Tochter auf dem Smartphone: „Prima Papa, hast Du das gemacht!“ Mit einem Grinsen, wahrscheinlich breiter als mein Zelt, schlafe ich sofort ein.

Am nächsten Morgen frühstücke ich mit Seeblick vor dem Zelt. Die Wildgänse vom Vorabend sind auch wieder da!
Für mich heißt es Abschied zu nehmen. Ich baue mein Zelt ab und verstaue alle Sachen im Rucksack. Der sehr nette Campingplatz-Besitzer hatte mir am Abend zuvor gestattet, meine Rollstuhl-Akkus über Nacht in seinem Büro aufladen zu dürfen. So kann ich jetzt wieder gut gestärkt nach Hause zurück „rollern“.

Für mich steht fest: Das sind die Stunden, die zählen! So etwas möchte ich auf jeden Fall noch öfter machen!

Jens Rückert