"Zweitjob"

„Machen Sie sich bitte keine Sorgen...“ so endete das Vorstellungsgespräch um einen Job, den ich eigentlich nicht haben wollte, um den ich mich nie beworben hatte, der nirgends ein Inserat füllt und den bestimmt niemand je mit mir tauschen wollte. Der Job ist unbezahlt und kostet Zeit, viel Zeit und Geld, mal mehr mal weniger, aber immer Geld, welches man bestimmt lieber anders angelegt hätte.

Alles scheint sinnlos, überflüssig und ist erdrückend – ein Anfang einer Geschichte, die mir ungefragt Aufgaben gegeben hat, die unlösbar erscheinen – plötzlich einen in Stein gemeißelten Zeitplan vorschreibt – strikt, unausweichlich, entschieden.

Ein neues Thema wurde mir auferlegt, keine Frage nach Kompetenz oder Erfahrung, keine nach Vorlieben und Neigungen, keine nach verfügbarer Zeit oder persönlichen Möglichkeiten. „Das schaffen Sie schon ...“ war der Ausdruck von grenzenlosem Vertrauen, was man normalerweise eher nicht bekommt, wenn man ohne Expertise, Ausbildung und Training eine solch komplexe Aufgabe erhält. Da war sie, die Antwort auf die nie gestellte Frage:„Ich habe einen Befund.“

Seltsam, dass es Themen gibt, worüber man sich – auf sich selbst bezogen – nie Gedanken gemacht hatte, was nie für einen selber galt, sondern immer eine Geschichte der anderen war, bis zu jenem Tag – dem Tag der Tatsachen. Ein Déjà Vu der besonderen Art – wo auf einmal wieder mal alle Zeit für dich haben – wo man im Mittelpunkt steht – wo es jeden gruselt – zumindest ein bisschen – wo selbst erfahrene Gelehrte die Ausnahme als Argument zulassen.

Schon zum zweiten Mal in meinem Leben nahmen sich besondere Spezialisten Zeit für mich, für das, was sie ermittelt hatten, für einen Tatsachenbericht. Zum zweiten Mal wurden alle Pläne über den Haufen geworfen, setzte die neue Aufgabe alles auf Start zurück – einfach alles!

Nach unendlich vielen Untersuchungen wurde ich überwiesen – zu den Ärzten, die einen in eine Röhre schieben und dann das Innere in vielen Bildern sichtbar machen. Ich kannte die Prozedur noch von fast verdrängten Tagen. So eine Untersuchung braucht seine Zeit. Wenn man schon nach wenigen Minuten in besorgte Gesichter schaut und darum gebeten wird, noch ein bisschen Geduld zu haben – ganz entspannt und ruhig zu bleiben –, ahnt man schon, was nun kommt. Die Untersuchung dauert länger. Man wird mit versteinerter Miene nach draußen gebeten, eine zweite Meinung wird eingeholt und dann kommt der Zeitpunkt, wo alles doppelt überprüft ist, die Meinungen nicht mehr auseinander gehen – es ausgesprochen werden muss.

Ich hatte nur kurz in meinem Leben mit behinderten Menschen zu tun. Mein Zivildienst ließ mich Kinder in ihre Sondereinrichtungen bringen. Hart arbeitenden Müttern und Vätern half ich wenigstens für ein paar Stunden, ihre Mamutaufgabe abgeben zu können. Das war’s! Nach knapp zwei Jahren war dieser Dienst vollbracht, ohne wirklich zu realisieren, was man eigentlich getan hatte. Eindrücke waren im Kopf gespeichert, nicht mehr flüchtig, aber auch nicht omnipräsent.

Das Leben war jung, das Leben war schön und voller Herausforderungen. Man wollte mehr, man war vorwitzig und schrecklich verliebt – wollte endlich raus in die große Welt und ihr zeigen, was man so kann. Seinen Platz finden, Visionen leben und Ideen in die Tat umsetzen – verrückte Sachen machen.
Der erste Warnschuss kam schlagartig, plötzlich, überraschend. Einen Monat lang war die linke Gesichtshälfte gelähmt, nicht mehr normal essen, nicht mehr normal schlafen, nicht mehr normal schwimmen und tauchen, nichts mehr normal. Es kam und ging, blieb unerklärt.

Der zweite Warnschuss kam im wahrsten Sinne des Wortes blitzartig. Ich sah einen Blitz im innen liegenden Badezimmer ohne Licht, ohne Sonne, in der Dunkelheit. Netzhautablösung wurde diagnostiziert und der damals noch hochmoderne neue Laser eingesetzt, um das, was noch da war, wieder anzuheften. Alles wieder gut – alles bald vergessen – Grund unbekannt.

Dann der erste große Schock: Diagnose Krebs – auch in den Lymphen. Eine Chemo war die Möglichkeit. Ich hatte Angst, die bestätigt wurde. Körperlich ging es schnell nach unten, tief nach unten bis auf den Boden des Lebens, bis an den Rand des Machbaren. Die Hoffnung stirbt zuletzt und blieb. Nach fünf Jahren galt ich als geheilt. Glück gehabt!

Jetzt kann es endlich losgehen. In den nächsten Jahren ereigneten sich immer wieder Dinge, die nach dem großen Erlebnis als Kleinkram ignoriert wurden, nie Aufmerksamkeit bekamen, un-untersucht blieben. Immer wieder fielen Basisfunktionen meines Körpers aus, wurden schwächer, fehlte die Kontrolle. Ende 2009 hat man, nach langer Suche, Multiple Sklerose diagnostiziert, nachdem letztendlich alle Funktionen unterhalb des Bauchnabels nicht mehr zuverlässig, bestimmungsgemäß funktionieren. Viele der Symptome wurden zunächst auf die Chemotherapie nach der Krebsgeschichte geschoben. Damals hatte ich Nervengifte bekommen, die teilweise, auch nach Jahren, solche Nebenwirkungen haben können. 2010 mussten mehrere Schübe mit massivem Kortisoneinsatz bekämpft werden – zeitweise konnte ich nicht mehr gehen, ein selbstbestimmtes Leben wurde häufig schwer.

Verschiedene Basistherapien wurden versucht und wegen massiver Nebenwirkungen, aus Unverträglichkeit, wieder abgesetzt. Heute bin ich recht stabil und habe eine gute Eskalationstherapie, die mich alle 28 Tage ein paar Stunden am Tropf hängen lässt – sonst aber keine weiteren gravierenden Nebenwirkungen hat. Alles was ich verloren habe ist weg – „fot is fot“ sagt der Kölner, und meint damit, dass man dem, was man verloren hat, nicht hinterher weinen sollte.

Also ist eine Analyse der Situation notwendig. Ohne Emotionen auflisten was geht und was nicht. Ich gehe meist schwankend und Distanzen schon im Bereich von wenigen Metern sind zu einem Problem geworden, manchmal unmöglich – Stöcke helfen mir im Kurzen, manchmal ein Rollator – immer öfter nur der Rollstuhl, wenn ein ganzer Tag gemeistert werden muss. Meine Hobbys – das Wandern, Rad- und Skifahren – sind nicht mehr möglich, weil mein Gleichgewichtssinn nicht mehr mitspielt, meine Beine nicht mehr wollen. Ein Dreirad nenne ich nun mein eigen, kombiniert mit einem Elektroantrieb: die neue Freiheit – wenigstens das Hobby kann weiter gehen – fast wie gewohnt, nur jetzt eben auf 66 cm Spurbreite. Ich bin ständig müde und brauche oft ewig, bis ich am Morgen abfahrbereit bin. Jeden Morgen wache ich mit dem allgegenwärtigen Zweitchef MS auf. Fast jeden Mittag brauch ich eine Schlafpause und das Wochenende zur Erholung. Da hilft nichts außer schlafen! Hinter meinem Schreibtisch im Büro steht jetzt eine Liege. Die Mittagspause ist fester Bestandteil meines Alltags und die Zeit, die bleibt, wird intensiver genutzt.

Was ist das eigentlich, was ich da habe? Komme ich aus dem Dilemma wieder heraus? Was bedeutet das für meine Zukunft?

Die erste Erklärung auf meine damaligen Fragen habe ich noch im Ohr: „MS beeinflusst die Fähigkeit von Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark, sich akkurat miteinander und mit dem Netz von Nerven im Rest des Körpers zu verständigen. Im Allgemeinen trifft es junge Erwachsene, viel öfter Frauen.“ Ich bin weder jung noch weiblich und trotzdem hat es mich getroffen. Warum?

In der ersten Zeit war ich überfordert. Überfordert zu fragen, überfordert zu verstehen, überfordert zu antworten. Sollte ich meine Familie und Freunde einweihen in das ,was ich selber nicht verstand – oder sogar öffentlich darüber reden? Was ist mit meinem Arbeitgeber, meinem Job, sollte ich bekannt geben, was mir da um die Ohren gehauen wurde – genauso rücksichtslos – genauso unerklärt? Die Welt um mich herum war nicht vorbereitet auf solch eine Nachricht, ich war nicht vorbereitet, nicht mehr leistungsfähig, nicht mehr belastbar, nicht mehr gesund. Alles brach zusammen, meine Werte, die Werte meiner Leistungsgesellschafft – jetzt bist du überflüssig, nutzlos, wertlos wurde schnell zum bestimmenden Thema in meinem Kopf. Und das alles, weil das eigene Immunsystem verrückt spielt und das Myelin angreift und beschädigt – teilweise oder vollständig. Myelin umgibt und schützt die Nervenfasern des zentralen Nervensystems. Es sorgt dafür, dass Mitteilungen schnell und unterbrechungsfrei durch das Gehirn, das Rückenmark und das Netz von Nerven gelangen. Der Schaden stört den Mitteilungsfluss, kann ihn verlangsamen, verzerren oder gänzlich unterbinden. Nichts war mehr konstant, nichts vorhersehbar, die verschiedenen Szenarien ändern sich im Laufe des Tages oder von einem Tag zum anderen.

Was man heute ableitet ist, dass es mehrere Gründe geben muss, da einer alleine nicht zu isolieren ist. Genkombinationen und Konstellationen sind sicher ein Grund. Ich habe einen eineiigen Zwilling, der glücklicherweise gesund ist. Stimmt das alles nicht, was sie sagen, oder habe ich einfach nur Pech – bin die vielzitierte Ausnahme der Regel?

Auch wo man lebt, soll ausschlaggebend sein, je weiter weg vom Äquator desto häufiger ist MS diagnostiziert! Es gibt noch unendlich viele Abhängigkeiten, die untersucht werden – ein riesiges Forschungsgebiet – eins der größten in der Welt!
Trotzdem bleibt: Niemand weiß heute die Ursache zu bestimmen – warum MS entsteht ist unbekannt. Die Konsequenzen sind vielfach und unvorhersehbar!

Ich muss lernen, mit der Diagnose zu leben, sie anzuerkennen, sie billigen. Immer wieder werde ich morgens wach und denke „Das alles war nur ein böser Traum“. Schon wenn ich aufstehe weiß ich, dass der böse Traum das Heute erreicht hat, das Hier und Jetzt. Manchmal muss ich morgens um sechs schon mit Vielem kämpfen, mit den Tränen und der Traurigkeit, mit den Beinen und dem Laufen, mit dem wach Werden und die unendliche Müdigkeit Vertreiben, mit der Wut über die fehlende Fähigkeit, mit der Verzweiflung, mit dem was Leben ist. Wann ist meine Kontrolle zu Ende, wann komme ich selbst hier nicht mehr raus, wann verliere ich mein selbst bestimmtes Leben ganz?
Immer mehr Zweifel kriechen dann in mein Bett – halten mich dort fest und überzeugen mich fast unbemerkt davon, mich der nächsten Aufgabe, dem nächsten Schritt, dem Tag nicht zu stellen und einfach liegen zu bleiben.

Eine Person mit Multipler Sklerose kann fast jedes neurologische Symptom oder Zeichen zeigen. Empfindungen ändern sich, man verliert seine Empfindlichkeit. Manchmal prickelt es, manchmal fühlt man sich wie betäubt. Die Muskeln sind schwach oder hyperaktiv. Muskelkrämpfe kommen und gehen, es fällt schwer, sich koordiniert zu bewegen, die doch so selbstverständliche Balance ist wie untrainiert.
Reden oder schlucken fallen schwerer, das Sehen wechselt zwischen scharf und unscharf – zwischen bunt und grau. Tiefe Müdigkeit überfällt einen aus dem Hinterhalt. Akute Schmerzen wecken einen auf, bleiben eine Zeit und verschwinden wieder. Blasen- und Darmschwierigkeiten gehören bewältigt.
Kognitive Beeinträchtigungen in verschiedenen Graden und von unterschiedlicher Dauer überraschen. Kleinigkeiten können zur Krise werden und zeigen, wie instabile Stimmungen plötzlich ihr Gesicht wechseln. Meine Form von MS verläuft in Schüben, niemand weiß, wann ein Schub startet, wie heftig er wird oder wie lange er dauert. Niemand weiß, was man temporär verliert und was für immer weg ist. Zurück gibt es so gut wie nie etwas.

Multiple Sklerose ist unheilbar. Was für ein Wort – das haut einen wirklich um und sorgt für schreckliche Phantasien. Horrorszenarien entstehen im Kopf und versuchen, bestimmend zu werden. Es ist viel Stärke und noch mehr Gelassenheit notwendig, diese im Zaum zu halten.
Die Pille, um MS zu stoppen oder zu heilen, gibt es einfach noch nicht. In den meisten Fällen wird das sogenannte "duale Konzept“ als Behandlungsform angewandt. Hochdosiertes Kortison bei einem akuten Schub, kombiniert mit immunmodulierender Langzeittherapie. Überall neue Vokabeln! Die Therapie muss jeder für sich erfahren und man kann nur ausprobieren, einen – seinen Weg finden. Man muss bereit sein, einfach alle Wege neu zu gehen. Neuer Tagesablauf, Wochenablauf, Monatsablauf – alles anders.

Aufklärung tut not, verstecken geht nicht! Die meisten Symptome von MS sind für die Allgemeinheit unsichtbar, und das, was man sieht, wird sehr häufig drastisch fehlinterpretiert. Mir sieht man an, dass etwas nicht stimmt – mancher denkt, ich wäre betrunken, wenn ich gehe, nicht ausgeschlafen, wenn ich gähne, ungeschickt, wenn was fällt und blind, weil meine Brillen ständig wechseln und die Monitore meines Arbeitsplatzes immer größer werden.

Ich bin in die Öffentlichkeit gegangen – mit Allem – manchmal habe ich geschockt, erschrocken, entsetzt, überrascht. Ich habe viele Gelegenheiten genutzt, um zu erklären, um aufzuklären – live und in Farbe – in all meinen sozialen Räumen, der Familie, bei Freunden und an meinem Arbeitsplatz. Ich habe erreicht, dass man mit mir spricht und nicht über mich. Ein gutes Gefühl, von Mitleid und Barmherzigkeit zu Verständnis und Hilfsbereitschaft überzugehen.

Den alten Paul gibt es nicht mehr. Lang lebe der Neue. Und das nehme ich wörtlich. Ich werde mich nicht verstecken, nicht in unendliche Traurigkeit verfallen, nicht den Kopf in den Sand stecken, nicht aufhören zu trainieren, nicht aufhören zu arbeiten und nicht aufhören, neugierig auf Neues zu sein.
Alles was ich mal konnte, geht so nicht mehr – Aufgabe ist jetzt neue Wege zu finden – neue Wege entstehen nur, wenn man sie geht. Der Tag ist kürzer, die Wege sind länger – alles strengt mehr an – ich nutze die Zeit, die bleibt.

Jetzt kommt nur noch die größte Herausforderung:
Den Kampf mit der Ungewissheit, die Furcht vor dem nächsten Schub, der Verlust der Autonomie. Dem muss man sich stellen, das muss man organisieren, das muss man letztlich akzeptieren.
Eines tröstet mich – auch die Anderen wissen nicht, wie es weitergeht – sie realisieren nur nicht, dass sie es in Wirklichkeit auch nicht wissen – mir ist das bewusst – jeden einzelnen Tag

Paul Pesch © 2011 ·2012 ppesch@outlook.com